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„Wir sind das Pflaster für die Seele“

30.8.2019

„Wir sind für Dich da“ – diesem Versprechen wird die Notfallseelsorge in der Region des Ev. Kirchenkreises Lüdenscheid-Plettenberg seit vielen Jahren gerecht. Für ihr bemerkenswertes und wichtiges Engagement erhielt sie u.a. 2018 die Ehrenmedaille der Stadt Plettenberg (Foto: Büdenbender)
„Wir sind für Dich da“ – diesem Versprechen wird die Notfallseelsorge in der Region des Ev. Kirchenkreises Lüdenscheid-Plettenberg seit vielen Jahren gerecht. Für ihr bemerkenswertes und wichtiges Engagement erhielt sie u.a. 2018 die Ehrenmedaille der Stadt Plettenberg (Foto: Büdenbender)

KIRCHENKREIS + Überfrierende Nässe auf der A45 kurz nach Weihnachten vor ein paar Jahren. Zwischen Lüdenscheid und Meinerzhagen gerät ein Pkw ins Schleudern, prallt gegen die Leitplanke, kommt zum Stehen. Die junge Familie verlässt fluchtartig das Unfallfahrzeug. Die Mutter verliert in dem Durcheinander die Übersicht. Sie läuft zurück, um ihre beiden Kinder zu retten.

 

„Aber die waren bereits in Sicherheit. Dabei hat sich die Mutter selbst in Gefahr gebracht, ist überfahren worden und war tot.“ Jedes Mal, wenn er bei nasskaltem oder frostigem Winterwetter über die A45 fährt, kommt Dirk Gogarn dieser Unfall in Erinnerung. Der Meinerzhagener Pfarrer ist damals als Notfallseelsorger von der Feuerwehr hinzugerufen worden. „Ich habe Stunden mit den Kindern verbracht, bis sie in Hellersen in der psychiatrischen Betreuung waren. Die Leiche der Mutter lag sehr lange am Autobahnrand. Ich habe mich bemüht zu verhindern, dass die Kinder da vorbeigehen und versucht sie abzulenken. Wir haben über die Weihnachtsgeschenke gesprochen, die sie gerade abgeholt hatten. Das Mädchen hat dann mehrmals gesagt: „Das schönste Weihnachtsgeschenk wäre, wenn mir das Christkind meine Mutter wieder brächte.“ Da stehst du dann und hast keine Worte….“

 

Gelbes Sternenkreuz auf rotem Kreis. Das Logo der Notfallseelsorge ist heute bei vielen Katastrophen und Unfällen ein vertrauter Anblick. Hauptamtliche und ehrenamtliche Notfallseelsorger in blauen Jacken stehen Opfern und Angehörigen in extremen Lebenssituation bei. Schwerpunkte der Notfallseelsorge sind Ansprache und Beistand, einfaches Da-Sein, Aufmerksamkeit für die Angehörigen, für mitbetroffene Personen aber auch für die Einsatzkräfte.

 

Das System der Notfallseelsorge in Deutschland gibt es noch nicht lange. Die Initiative einzelner Pfarrer, die gleichzeitig in Feuerwehr- und Rettungsdiensten tätig waren, führte 1991 zur Gründung. Seit knapp 20 Jahren besteht die Notfallseelsorge auch im Märkischen Kreis. Dort engagieren sich rund 70 Notfallseelsorgende. Vier davon sind Jürgen Schaumberg, Ulrike Schäfer, (beide aus Plettenberg), Martin Bremicker (Kierspe) und Pfarrer Dirk Gogarn (Meinerzhagen).

 

Ihre Motivation, dieses schwere Amt auszuüben, ist ganz unterschiedlich. Dirk Gogarn und Martin Bremicker sehen ihr Engagement primär christlich motiviert. Ulrike Schäfer liegt das Bedürfnis, sich sozial zu engagieren, quasi im Blut. Mit einem Augenzwinkern erklärt sie: „Es gibt Familien, die haben so einen sozialen Tick. Und aus so einer komme ich.“ Ihre Ausbildung zum Notfallseelsorger hat sie zusammen mit Jürgen Schaumberg absolviert. Der Rentner hatte mit dem Unfalltod seines Sohnes selbst erfahren, wie wichtig es ist, in solchen Momenten Beistand zu erhalten. „Familie und Freunde haben mich damals aufgefangen. Mit meinem Engagement als Notfallseelsorger möchte ich jetzt meinerseits anderen helfen.“

 

 

Dirk Gogarn, Martin Bremicker, Ulrike Schaefer und Juergen Schaumberg (v.l.nr.) sind vier der insgesamt 70 Notfallseelsorgenden im Märkischen Kreis. Die Hauptamtliche und Ehrenamtliche stehen seit knapp 20 Jahren Opfern und Angehörigen in extremen Lebenssituation bei (Foto: Büdenbender)

 

 

Dirk Gogarn koordiniert seit zwei Jahren die Notfallseelsorge im märkischen Südkreis:„Unser Team besteht aus Pfarrern verschiedener Konfessionen und aus ausgebildeten Ehrenamtlichen. In enger Zusammenarbeit mit dem Beauftragten des Bistums Essen, Diakon Ulrich Slatosch, organisieren wir gemeinsame Fortbildungen.“

 

Um jederzeit bereit zu sein, haben sich die Notfallseelsorgenden in Ortsgruppen organisiert, unterstützen sich aber auch über die Stadtgrenzen hinaus untereinander. Für Feuerwehr und Polizei sind sie über Handy oder Pieper rund um die Uhr erreichbar. „Die Einsätze sind vielfältig“, erklärt Ulrike Schäfer, „ob wir jetzt die Polizei bei der Überbringung einer Todesnachricht begleiten, ob wir gerufen werden, weil einer übrig geblieben ist, ob wir zu einem Unfallort oder zu einem Selbstmord gerufen werden...“

 

Nur selten geht es um so große Katastrophen, wie es vor 20 Jahren das Zugunglück von Eschede oder das Drama der Lovepade in Duisburg war. Und nur selten ist der Einsatz der Notfallseelsorgenden so massiv, wie nach dem Germanwings-Absturz vor vier Jahren, als 16 Schüler und zwei Lehrerinnen aus Haltern starben und eine ganze Schule trauerte. Wobei gerade diese Großeinsätze die Notwendigkeit einer Seelsorge deutlich gemacht haben, findet Dirk Gogarn. Aber fast immer sind es Situationen, in denen der Tod eine Rolle spielt, Momente der Unbegreiflichkeit für die Angehörigen, die durch das Ereignis jäh aus der Bahn geworfen werden. Das sind die Augenblicke, in denen jemand da sein und Beistand leisten sollte. „Wir sind das Pflaster für die Seele“, beschreibt Martin Bremicker die Aufgabe der Notfallseelsorger. Das kann auf ganz unterschiedliche Weise geschehen. Nicht immer bedarf es vieler Worte. „Oft reicht es völlig aus, daneben zu sitzen und die Hand zu halten“, erklärt Jürgen Schaumberg und Dirk Gogarn ergänzt: „Die Kunst der Seelsorge ist es, die richtigen Worte zu finden oder auch das Schweigen zu ertragen.“

 

Die Helfer der Notfallseelsorge betreuen, beruhigen und trösten Menschen in Notlagen. Oft ist es nicht, das eigene Leid, sondern das Leid anderer, welches zum Beispiel den Zeugen von Katastrophen und Unfällen zu schaffen macht. Aber so geht es auch den Notfallseelsorgenden selbst. „Manchmal“, gesteht Martin Bremicker, „steige ich nach dem Einsatz aus dem Auto aus und heule erst einmal Rotz und Wasser.“ Alle haben ihre Strategie entwickelt, das Erlebte zu verarbeiten. Urike Schäfer geht mit dem Hund spazieren. Andere stellen sich erst einmal unter die Dusche. Ein Ritual, als könne man so das Erlebte abwaschen. „Unter Leute kann ich an so einem Tag nicht mehr gehen“, versichert Martin Bremicker. „Ich rede dann oft mit meiner Frau darüber.“ „Der Partner muss das mit aushalten“, bestätigen auch die anderen. „Seitdem ich das hier mache“, erklärt Jürgen Schaumberg, „habe ich eine andere Einstellung zum Tod, er macht mir keine Angst mehr.“ ©MB

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