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Wo aus Verzweiflung Vergebung wird - Der Fall Mirco

18.10.2019

Luis darf mit „zur Arbeit“ von (Pflege-)Mama Reinhard und Sandra. Das Ehepaar verlor ihren Sohn Mirco, der 2010 ermordet wird. Mit ihrem Vortragsdienst antworteten die Beiden auf ihre einstige Frage: „Gott, was hast Du noch mit uns vor?“ (Foto: Haidle)
Luis darf mit „zur Arbeit“ von (Pflege-)Mama Reinhard und Sandra. Das Ehepaar verlor ihren Sohn Mirco, der 2010 ermordet wird. Mit ihrem Vortragsdienst antworteten die Beiden auf ihre einstige Frage: „Gott, was hast Du noch mit uns vor?“ (Foto: Haidle)

OBERBRÜGGE + „...vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern...“ ist ein Bekenntnis. Welcher Christ hat es nicht schon einmal gebetet. Was aber, wenn es sich bei „den Schuldigern“ um den Mörder des eigenen Kindes handelt?

 

Im September 2010 erleidet der zehnjährige Mirco ein furchtbares Schicksal: Er wird entführt, missbraucht und getötet. Genau neun Jahre später sitzen Sandra und Reinhard Schlitter auf einer Couch im Altarraum der Oberbrügger Kirche. Sie sind der Einladung von Pfarrer Thomas Wienand gefolgt. Es handelt sich um die Eltern von Mirco. Verlieren. Verzweifeln. Verzeihen., so lautet nicht nur ihr Buch, sondern auch das Thema des besonderen Gottesdienstes. Interview, Buchlesung und kraftvoll gesungene Gebete der Lüdenscheider Band „Living Ruins“. Alles lädt auf intensive Weise dazu ein, sich einem Gott der Gnade und Fürsorge zuzuwenden.

 

Timo Groß ist als Moderator der herzliche Gastgeber für die Grefrather Gäste. Während die Eltern über die tragische Zeit und den schweren Verlust ihres jüngsten Sohnes Mirco sprechen, schmust ein Blondschopf zwischen ihnen hin und her. Luis, ihr dreijähriger Pflegesohn. Wer Augen für ihn hat, der bekommt bereits dadurch etwas von der Geschichte einer Familie erzählt, die Heilung erfahren durfte.  

 

Nach dem Besuch von Samuel Koch im vergangenen Jahr auch diesmal wieder ein gutes Team bei diesem Themenabend: Moderator Timo Groß und Pastor Thomas Wienand (Foto: Haidle)

 

 

145 Tage der Ungewissheit und dann die schreckliche Wahrheit: Mirco wird nicht mehr lebend nach Hause kommen. Man läuft Gefahr, im Schrecken dieser Ereignisse zu erstarren. Aus dem Dunkel taucht unweigerlich die große Frage auf: „Wie konnte Gott das zulassen?“.

 

„Gott, so kenne ich dich nicht!“ sind die verstörenden Gedanken, die Reinhard Schlitter anstelle dessen durch den Kopf gehen. Es passt einfach nicht in seinen Erfahrungshorizont, dass Gott auf einmal wegschaut. Immer wieder fällt an diesem Abend der Satz: Gott war da! „Ich kann es nicht beschreiben, aber ich hatte das Gefühl, dass Gott mit uns weint, dass er mitten drin steckt in unserem Leid.“

 

Wenn es niemanden mehr gibt, der das Gleiche erlebt hat wie man selbst, dann bleibt Gott der einzige kompetente Ansprechpartner, so formuliert es Sandra Schlitter. Und dennoch sind das allabendliche gemeinsame Gebet, das Suchen in Gottes Wort und der strotzende Lobpreis mit Familie und Freunden Balsam für ihre wunde Seele. Auf eine Fensterscheibe schreibt sie die Jahreslosung 2011: Lass dich nicht vom Bösen überwinden sondern überwinde das Böse mit Gutem. (Röm 12,21). Wer auch immer rein oder raus schaut – die Beamten des SEKs, Presse oder Nachbarn – alle werden mit diesem Aufruf konfrontiert.

 

Im Inneren des Hauses enthüllt sich derweil ein bedeutungsvoller Weg. Immer wieder muss die Verzweiflung der Entscheidung weichen: Ja, wir wollen Gott nicht den Rücken kehren, sondern umgekehrt fragen: „Wo ist der Weg, den Du, Gott, noch mit uns vorhast?“.

 

Das herausfordernde Thema zog zahlreiche Interessierte auch fernab der Gemeindegrenze an (Foto: Haidle)

 

„Wenn Vergebung wirklich möglich ist....“, wird ein Gedankenspiel der Schlitters. Diese Menschen, die über die Belastungsgrenze geführt werden, wollen nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Daher lautet ihr Gebet weiter: „....dann gib Du uns die Kraft diesen Weg zu gehen, Herr.“ Und diese Kraft wird ihnen geschenkt - in vielen kleinen, einzelnen Schritten.

Und sie wirkt weiter bis in den Gemeindesaal, in dem sich die bewegten Gäste anschließend zu einem offenen Gespräch bei Verköstigung einladen lassen.

 

Pfarrer Thomas Wienand ist niemand, der schwere Themen scheut. Stehen bei diesem Mal die Opfer im Fokus, so wird in einer Veranstaltung im nächsten Jahr ein Täter zu Wort kommen. Bis dahin werden noch viele Vater Unser gebetet. Und sicher wirkt der Abend weiter. Vergib uns unsere Schuld, wenn wir wieder einmal denken, in unserem Fall sei das mit dem Vergeben aber leider nicht so einfach... ©CH

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