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38 Jahre ‚Hirte‘ der Gemeinde

27.7.2020

Pfarrer Hans-Joachim Keßler wurde nach 38 Jahren als ‚Hirte‘ seiner Kirchengemeinde in Grevenbrück den Ruhestand verabschiedet (Foto: Jung)
Pfarrer Hans-Joachim Keßler wurde nach 38 Jahren als ‚Hirte‘ seiner Kirchengemeinde in Grevenbrück den Ruhestand verabschiedet (Foto: Jung)

Von Martin Jung

 

GREVENBRÜCK + Für seinen letzten Gottesdienst in Finnentrop, so erzählte Pfarrer Hans-Joachim Keßler, sei als Predigttext Johannes 5, 1-18 vorgeschlagen gewesen. Es geht dort um die Heilung eines Kranken am Teich Bethesda nach fast achtunddreißig Jahren des Wartens.

 

So lange, achtunddreißig Jahre, ist Pfarrer Keßler seiner Berufung als Pastor der Evangelischen Kirchengemeinde Grevenbrück nachgegangen. Das sind fast vierzig Jahre. Mit dieser Zahl verbinden sich in der Bibel viele Geschichten.

 

Vierzig Tage ging die Sintflut hernieder, vierzig Jahre dauerte die Wüstenwanderung des Volkes Israel, dabei war Mose vierzig Tage auf dem Berg Horeb und erlebte eine Gottesbegegnung. Vierzig Tage wurde Jesus in der Wüste vom Teufel verführt. Nehmen wir ein Ereignis der jüngeren Vergangenheit hinzu: Vierzig Jahre nach Kriegsende, am 08.Mai 1985, hielt der damalige Bundespräsident  Richard von Weizsäcker eine Rede, in der er den Tag des Kriegsendes nicht mehr als einen Tag der Niederlage, sondern als einen Tag der Befreiung beschrieb und damit ein Umdenken in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung auslöste.

 

Nach diesen Bemerkungen könnte der Schluss entstehen, für Pfarrer Keßler seien die fast vierzig Jahre auch so etwas wie ein Dauerregen oder eine Wüstenwanderung gewesen. Demnach wäre jetzt mit dem Beginn des Ruhestandes das gewünschte Ziel erreicht.

 

An dieser Stelle mag ein Vers aus Psalm 90 helfen. „Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und wenn's köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen.“ (Psalm 90, 10) Hans-Joachim Keßler hat seine Arbeit getan im Sinne des Schöpfungsauftrages 1. Mose 2,15: Der Mensch bebaue und bewahre den Garten. Jede menschliche Arbeit ist mit Mühsal verbunden. Und jeder Mensch ist zu beglückwünschen, der im Rückblick auch sagen kann: Meine Arbeit war schwer, aber sie war auch köstlich. Während der „Wüstenwanderung“ gab es auch Oasen, manchmal dichter beieinander, manchmal etwas weiter im Abstand.

 

Pfarrer Keßler hat sich den Auftrag an alle Jünger Jesu für seinen Beruf zu eigen gemacht: „Darum gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.“ (Matthäus 28, 19f). Er ist Pastor (= Hirte) der evangelischen Gemeinde Grevenbrück mit einigen Nachbarorten gewesen und damit Begleiter der Menschen auf einer Wanderung, die mühselig und köstlich zugleich war

 

Herr Pastor Keßler, die Gemeinde in Grevenbrück dankt Ihnen für Ihre Arbeit!

 

 

Lassen wir zu einigen Fragen Pfarrer Hans-Joachim Keßler selbst zu Wort kommen. Das Interview führte Martin Jung:

 

Was war Ihre Motivation, Theologie zu studieren und Gemeindepfarrer zu werden?

Am Beginn stand die Ergriffenheit durch die frohe Botschaft Jesu Christi, das Staunen über das Kommen Gottes in unsere Welt, zu uns Menschen. Familiär bin ich geprägt durch die im Siegerland anzutreffende pietistische Gemeinschaftsbewegung, zu der ich von Kindheit an in Kontakt gekommen war. In diesen Kreisen der Schwestern und Brüder im Glauben ist mir die Liebe zum Wort Gottes, zur Bibel, mitgegeben und für das ganze Leben bestimmend geworden. Es war der Wunsch, die biblische Botschaft noch tiefer und intensiver kennenzulernen, der mich bewogen hat, das Studium der Theologie zu wählen. Wie ein kluger Mann es sagte: "Was wäre dann sonst der Mühe wert zu begreifen, wenn Gott unbegreiflich ist."

 

 

Bitte nennen Sie uns die Stationen Ihres Werdeganges bis zu ihrer Berufung an die Grevenbrücker Gemeinde?

Nach dem Besuch der Volksschule und des Ev. Gymnasiums in Weidenau, wo ich das Abitur ablegte, begann ich in Marburg mit dem Studium der Theologie. Nach vier Semestern wechselte ich an die Universität in Heidelberg. Während dieser Zeit wohnte ich in einem Wohnheim, das dem Benediktinerkloster Stift Neuburg angeschlossen war und die Möglichkeit bot, das mönchische Leben kennenzulernen. Nach der Vikariatsausbildung in Plettenberg bei Pfarrer Krön wurde ich 1982 von Superintendent Übrig in die vakante Pfarrstelle in Grevenbrück eingewiesen und schließlich nach dem Abschluss der Probezeit zum Pfarrer gewählt und eingeführt.

 

Können Sie uns von besonderen Erlebnissen oder Projekten während ihrer Amtszeit in Grevenbrück berichten?

Zunächst denke ich an eindrucksvolle Begegnungen mit so vielen Menschen, die mir unvergesslich geblieben sind, an die gemeinsame Arbeit mit all den Presbytern, Helferinnen und Helfern, jungen und alten Menschen, an Gottesdienste und geistlich erfüllte Stunden, die uns in der Gemeinde geschenkt waren. Das schönste Erlebnis würde wohl sein, wenn in der Zeit des Wirkens einem Menschen das Herz für den Glauben an Jesus Christus aufgetan worden wäre. Wer weiß?

Natürlich gab es auch wichtige Projekte und Vorhaben. Gerne erwähne ich die Gemeindefeste, unsere traditionelle Adventsfeier am 2. Advent, die Gottesdienste am Pfingstmontag unter freiem Himmel bei der SGV-Hütte in Grevenbrück, so manche ökumenisch gemeinsame Gottesdienste, die Veranstaltungen und Fahrten der Frauenhilfe, des Abendkreises der Frauen, des Männerkreises, der früheren Kantorei, der Jugendgruppen.

Auch baulich und erwerbsmäßig ist manches geschehen: Das Kirchengrundstück konnte beträchtlich erweitert werden. Die Jugendräume wurden ausgebaut, neue Kirchenfenster in Bleiverglasung eingesetzt, das große Orgelprojekt dank der Unterstützung vieler Spender vollendet, die Figuren der Weihnachtskrippe durch den Einsatz des Männerkreises nach und nach angeschafft, ein neues, wertvolles Abendmahlsgerät in Auftrag gegeben und auf unserem Friedhof eine würdige Aufbahrungsmöglichkeit für die Verstorbenen errichtet.

 

Was hat sich in den achtunddreißig Jahren Ihres Berufslebens wesentlich in der christlichen Gemeinde (allgemein gesehen) verändert?

Zu Veränderungen ist es in der Tat auf vielen Ebenen der kirchlichen Arbeit gekommen. Der Gemeinde Gottes ist es ja auch aufgegeben, die ihr anvertraute Botschaft jeweils verständlich und aktuell zu Gehör zu bringen und dabei auf die Fragen und Sorgen der Menschen einzugehen. Zudem stehen wir heute vor neuen großen Herausforderungen, die sich zu Beginn der achtziger Jahre erst leise ankündigten. Denken wir an die demographischen Veränderungen und kulturellen Verschiebungen, deren Tragweite noch gar nicht absehbar ist. Die in meinen Augen wesentlichste Veränderung wäre allerdings zu hinterfragen.

Das Bewusstsein einer letzten Verantwortung vor Gott ist in unserer Gesellschaft, ist auch in der christlichen Gemeinde weithin verloren gegangen. Nach wie vor stehen im Glaubensbekenntnis zwar noch die Worte: " von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten". Doch die Frage nach dem ewigen Geschick des Menschen, was aus uns nach dem Tode wird, scheint nur noch wenige zu interessieren. Die. Botschaft der Bibel ist an dieser Stelle allerdings völlig eindeutig: Alle Menschen werden einmal mit ihren Taten, Worten, Gedanken und Gefühlen vor den hinzutreten haben, der die Flammenaugen hat und aus dessen Mund ein zweischneidiges Schwert geht (Offenbarung l, 14,16). Bei solcher Begegnung kommt es nicht zwangsläufig zum happy end.

Wer diesen Tag der Rechenschaft vor Gott ausblendet, bricht letztlich der biblischen Botschaft die Spitze ab. Sie zielt ja darauf ab, Menschen zu Jesus Christus einzuladen, der als Erlöser und Retter in die Welt gekommen ist, "damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben." ( Johannes 3,16.)

 

Sie stammen aus dem reformiert geprägten Siegerland, haben dort Ihre Kindheit und Jugend verbracht und sind dort zur Schule gegangen. Nun sind Sie lange in einer eher lutherisch geprägten Gemeinde Pfarrer gewesen. War das eine bewusste Entscheidung oder war es ein durch äußere Gegebenheiten bedingter Wechsel?

In meiner Kindheit und Jugendzeit ist mir die reformierte Prägung des Siegerlandes kaum bewusst geworden. Ich habe allerdings schon damals die Kerzen auf dem Altar - im Siegerland sagt man "Abendmahlstisch" - vermisst. Als fraglich erschien es mir auch, dass nur an zwei Tagen im Verlauf des Kirchenjahres, an Karfreitag und am Buß- und Bettag, das Abendmahl gefeiert wurde und zwar, wie es die Pastoren jeweils betonten, "im Anschluss an den Gottesdienst". Auch während der Ausbildung ist uns sowohl lutherisches wie auch reformiertes Gedankengut vermittelt worden, wobei freilich deutlich wurde, dass Martin Luther im Vergleich zum reformierten Johannes Calvin der tiefere Denker war. Er hat, so die Worte eines Professors, immer noch um eine Ecke weitergedacht. Beim Verständnis des Hl. Abendmahls habe ich mich dann tatsächlich mehr zu Martin Luther hingezogen gefühlt. Auch seine Beschreibung, dass der Gottesdienst Wort und Sakrament umfasst, halte ich für überzeugender. Mit den Jahren in der Gemeinde Grevenbrück ist mir dann die Liturgie ans Herz gewachsen, und ich wollte sie nicht mehr missen. Hier würde mir beim Verlauf des Gottesdienstes reformierter Prägung im Siegerland mittlerweile tatsächlich etwas fehlen. Doch bei allen Unterschieden gilt das Wort des Paulus aus dem 1. Thessalonicherbrief: "Prüft aber alles und das Gute behaltet." Die Lieder des "reformierten" Gerhard Tersteegen - "Ich bete an die Macht der Liebe, die sich in Jesus offenbart"- sind mir so lieb und wert, wie die Lieder des "lutherischen" Paul Gerhardt - "Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt".

 

Welche Pläne haben Sie für Ihren Ruhestand?

Wenn die Zeit mir geschenkt wird, möchte ich noch so manches lesen, auch die alten Sprachen Hebräisch, Griechisch und Latein pflegen und dazuzulernen, auch auf die Arbeit im Garten und auf Wanderungen freue ich mich. Über allem sollte freilich das Bedenken stehen: "0 Ewigkeit, so schöne, mein Herz an dich gewöhne mein Heim ist nicht in dieser Zeit."

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