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„Out of order?“ Traumasensible Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

31.8.2020

„Out of order?“ Traumasensible Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

Autorin: Sabine Haupt-Scherer

 

Unter diesem Titel fand der Fachtag der Ev. Kirchengemeinde Attendorn-Lennestadt und des Amtes für Jugendarbeit der EKvW in Grevenbrück statt. Die Jugendreferent*innen der Kirchengemeinde Kristina Ashoff und Sven Vorderbrück hatten zu diesem Fachtag eingeladen und ihn unter Corona-Bedingungen organsiert. Die Stühle standen einzeln mit 1.50m Abstand, zu Beginn Handdesinfektion statt Kaffee, die Fenster weit geöffnet, eine CO2-Ampel maß den Luftaustausch.

17 Teilnehmende aus ganz NRW waren gekommen, eine bunte Mischung aus Jugendreferent*innen, Gemeindepädagog*innen, Lehrer*innen, Erzieher*innen sowie Mitarbeiter*innen der OGS, aus der Offenen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und von den Pfadfindern. Gern wären noch mehr gekommen, - es gab eine Warteliste -, aber unter Coronabedingungen musste die Teilnehmendenzahl begrenzt werden.

 

Thema waren Kinder und Jugendliche, die sich unverständlich verhalten und nicht auf Ansprache reagieren, die „out of order“ wirken und in allen Einrichtungen stören – in Kindertagesstätten, Schulen, Häusern der offenen Tür, in Gruppen und auf Freizeiten – Systemsprenger eben. So erzählte Sven Vorderbrück von einem Jungen in der OGS, der sich scheinbar grundlos auf ein anderes Kind stürzte und es verprügelte. Klar, dass man als Pädagoge dann nicht begeistert ist. „Wie wäre das denn, wenn das einer mit dir machen würde“, hatte Sven Vorderbrück gesagt und dann erfahren, dass das angreifende Kind genau das schon erlebt hatte. Aber wieso wird jemand, der Opfer war, zum Täter? Wieder stieß er auf Unverständliches.

Schon vor Jahren hatten sich Sven Vorderbrück und Kristina Ashoff dann auf den Weg gemacht, hier mehr zu verstehen und handlungsfähig zu werden. Eher suchend hatten sie ein Seminar zu Traumapädagogik von Sabine Haupt-Scherer aus dem Amt für Jugendarbeit der EKvW besucht. Das wurde für sie, wie Kristina Ashoff berichtete, zum „Augenöffnertag“. Plötzlich wurde bisher unverständliches Verhalten verstehbar.

Wenn jemand unter traumatischen Bedingungen Gewalt erlebt, so hörten sie, dann entsteht im Gehirn eine Art „schreibgeschützte Datei“, ein Muster von Gewalt. Dieses Muster kann in aktuellen Situationen wieder ausgelöst (angetriggert) werden. Dann wird das Alltagsbewusstsein dieser Person sozusagen gekidnappt, und man tut dann Dinge, die man eigentlich nicht tun will und die man nicht steuern kann. Man reagiert panisch oder aggressiv – passend für die alte Situation, aber unpassend heute. Denn unter traumatischem Stress werden Erinnerungen unvollständig im Gedächtnis gespeichert, ihnen fehlt der Satz. „Es war einmal …“, und das Gehirn hält dann Erinnerungen, auf die es stößt, für Gegenwart. Das zu wissen, macht Verhalten verstehbarer und macht den Umgang damit leichter.

Davon wollten Kristina Ashoff und Sven Vorderbrück mehr. So hatten beide einen 14tägigen Zertifikatskurs Traumapädagogik im Amt für Jugendarbeit belegt, jetzt wollten sie weitergeben, was sie entdeckt und gelernt hatten.

 

Traumatisierungen sind viel häufiger, als man denkt. In unserem Leben sind sie allgegenwärtig. Alles, was uns in unserer Existenz bedroht und ohnmächtig macht, weil wir weder fliehen noch kämpfen können, kann traumatisieren. Und das sind eben nicht nur Fluchterfahrungen, Messerstechereien und der 11. September. Das sind auch die „kleinen“ Grausamkeiten des Lebens: schmerzhafte medizinische Behandlungen, die kleine Kinder ja noch nicht verstehen können („Notwendige medizinische Misshandlungen“ sagt die Traumapädagogik),  das sind auch plötzliche Trennungen oder Todesfälle, häusliche Gewalt („familiäre Kriegsgebiete“), Vernachlässigungen, massive Demütigungen oder Beschämungen, Mobbing und vieles mehr. Wir wissen alle etwas von Traumatisierungen, auch wenn die meisten keine Traumafolgestörung entwickeln, weil viele Traumatisierungen ohne Behandlung ausheilen.

 

Vormittags referierte Sabine Haupt-Scherer vom Amt für Jugendarbeit zu den neurobiologischen Grundlagen der Traumapädagogik. Denn Traumata verändern etwas im Gehirn und im Gedächtnis und das hat Folgen für das Denken, Fühlen und Verhalten von betroffenen Kindern und Jugendlichen. Nachmittags berichteten Kristina Ashoff und Sven Vorderbrück von Möglichkeiten, mit kleinen Anregungen Situationen zu deeskalieren, Kinder und Jugendliche zu unterstützen und im Gruppenalltag damit umzugehen. Auch Hilfen zur Unterstützung der Mitarbeitenden, für die der Umgang mit Traumageschichten und traumatisierten Menschen sehr belastend sein kann, kamen zur Sprache.

Und natürlich war Corona Thema. Wo schränkt Corona die Möglichkeiten ein, betroffene Kinder und Jugendliche zu unterstützen? Wo triggert Corona alte traumatische Erfahrungen und lässt sie in der Gegenwart wieder lebendig werden (Erfahrungen von Krankheit, Einsamkeit, Eingesperrt-Sein oder Ausgestoßen-Sein)?

 

Am Ende sind sich alle einig, dass es sich gelohnt hat, an diesem Samstag nach Lennestadt gekommen zu sein– weil das Thema spannend war, weil es schön war, wieder im Realkontakt zu lernen und neue Menschen kennen zu lernen, wenn auch nur auf Abstand. Und alle sind sich einig: Mit diesem Thema wollen wir uns weiter beschäftigen.

 

Wenn sie auch neugierig geworden sind: Die Arbeitshilfe zu Traumapädagogik von Sabine Haupt-Scherer kann im Amt für Jugendarbeit der EKvW kostenlos bestellt werden.

 

 

 

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