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"Volle Tonne - leere Teller"
3.1.2022

LÜDENSCHEID/ALTENA-DAHLE + Jochen Brühl (Jahrgang 1966) stammt aus Altena-Dahle, wurde durch den dortigen CVJM geprägt, war im CVJM- Kreisverband aktiv und ist seit 2013 Fundraiser für den CVJM Deutschland und für die CVJM-Hochschule in Kassel. Der studierte Sozialarbeiter und Diakon, der jetzt in Essen lebt, ist heute Vorsitzender der Tafel Deutschland, des Dachverbandes der deutschen Tafeln. Der gemeinnützige Verein vertritt die Interessen seiner Mitglieder gegenüber Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und unterstützt mit praktischer Hilfe die Tafel-Arbeit vor Ort. Brühl engagiert sich schon seit über 20 Jahren für die Tafel, die er als „größten Lebensmittelretter Deutschlands“ bezeichnet. An jedem Tag sammeln die über 940 Tafeln bei Supermärkten, Bäckereien usw. im ganzen Land viele Tonnen noch genießbarer Lebensmittel ein, die sonst im Müll landen würden. Die geretteten Lebensmittel werden in den über 2000 Ausgabestellen von mehr als 60.000 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern an rund 125 Millionen Bedürftige verteilt.
Sein Buch „Volle Tonne – leere Teiler“ soll dazu beitragen, Lösungen für das Problem zu finden, dass Lebensmittel auf der einen Seite im Überfluss vorhanden sind, andrerseits aber nahezu 15 Millionen Menschen nicht genug davon haben. Das vom Fotografen Reiner Pfisterer mit vielen Schwarz-Weiß-Bildern ausgestattete Buch trägt den Untertitel „Was sich ändern muss. Gespräche über Armut, Verschwendung, Gerechtigkeit und notwendiges Engagement“ und beeindruckte stark im überregionalen CVJM-Kreis „Unter uns“. Es ist im adeo-Verlag erschienen und zum Preis von 22 Euro über den Buchhandel zu haben. Von jedem verkauften Exemplar geht ein Euro an die Tafeln. Im Vorwort schreibt der Autor und Journalist Heribert Prantl: „Es wäre eine Katastrophe, wenn es die Tafeln nicht gäbe. Es ist aber auch eine Katastrophe, dass es sie geben muss.“ Um sein Buch schreiben zu können, hat Jochen Brühl 17 intensive Gespräche mit Menschen in allen Teilen Deutschlands geführt. Zu seinen Gesprächspartnern gehörte unter anderem Tafelgründerin Sabine Werth, die betonte: „Wenn wir uns auf die Förderung seitens der Politik beschränken, machen wir uns abhängig von wechselnden Mehrheiten. Deshalb sind Großspenden von Unternehmen wichtig“. Sie hob hervor, dass die Tafeln die Armut nicht beseitigen, aber lindern und dass an den Ausgabestellen alle Schichten miteinander in Kontakt kommen und gerade dieses Miteinander für sie wichtig sei.

Thomas Middelhoff, Ex-Superreicher und erfolgreicher Topmanager und jetzt Ex-Häftling in Privatinsolvenz, der nach seinem Scheitern auf allen Ebenen im Gefängnis und in der Arbeit mit Behinderten in Bethel sein „komplettes Wertegerüst neu geordnet“ hat, trat im Gespräch mit Brühl dafür ein, dass man „statt Unsummen an Topmanager zu zahlen, Hunderten von Rentnern einen menschenwürdigen Ruhestand ermöglichen“ und durch die Sicherung der Renten der Altersarmut entgegenwirken solle.
Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck, zu dessen Problemen im Ruhrgebiet die Armut gehört, erklärte zu diesem Thema: „Niemand darf zurückgelassen werden“. Die Tafelarbeit hält er für enorm wichtig, vor allem deshalb, weil sie allen Bedürftigen ihre Hilfe zukommen lasse und weil sie das nach den Regeln einer Ehrenamtsbewegung mache. Bezüglich der Tafeln, die neben Nahrungs- auch Pflegemitteln oder Kleidungstücke verteilen und zum Teil auch Hausaufgabenhilfe und Schuldnerberatung leisten, erklärte er: „Ich bin stolz darauf, dass wir als Christen fähig sind zu helfen und dass es so viele sind, die mitmachen“. In Berlin, wo Jochen Brühl durch seine Tätigkeit im Vorstand der Tafeln häufig in der Geschäftsstelle der Tafel Deutschland zu Gast ist, traf er die ehemalige Bundesministerin Dr. Irmgard Schwaetzer, die 20 Jahre Mitglied der Bundestagsfraktion der FDP war und lange als Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland eine zutiefst soziale Einrichtung repräsentierte. Als Ursache dafür, dass Menschen tagtäglich darum kämpfen müssen, das Notwendigste zu bekommen, bezeichnete sie die Altersarmut und die Situation von Alleinerziehenden. Ihrer Meinung nach wird es „nie Lösungen geben, wenn es um Armut geht“. Sie hob auch hervor: „Wenn wir es als Kirche nicht schaffen, Anwalt für die Schwachen zu sein, verlieren wir unsere Relevanz“. Auch mit einer Person aus dem heimischen Raum hat Brühl gesprochen: mit der aus Schalksmühle stammenden Theologin und Autorin Christina Brudereck. Sie bezeichnet die Tafeln in einem Gedicht „als eine Art Segen“ und tritt dafür ein, Menschen in Notsituationen mit den Worten „Du bist willkommen“ zu begegnen. Man sollte zum Ausdruck bringen, „dass Hoffnung größer sein muss als die Angst und dass sie in der Liebe begründet sein muss.
Eine der bekanntesten Personen, die Brühl interviewt hat, ist der inzwischen zum ersten „Tafel-Botschafter“ ernannte Medienprofi Jörg Pilawa. Wie er erklärte, fände er den kirchlichen Ansatz des Zehnten gut, also des Prinzips, dass alle Vermögenden ein Zehntel ihres Einkommens für soziale Zwecke einsetzen sollten. Für die Schulen wünscht er sich „Ernährung und Kochen“ als Pflichtfach, damit interessierte Kinder aus sozial-schwachen Familien lernen, dass man sich auch mit wenig Geld gut und gesund ernähren kann. Es beschämt ihn, „dass in diesem Land soziale Herkunft darüber entscheidet, welche Schulkarriere Kinder machen“. Jochen Brühls weitere Gesprächspartner waren der Schauspieler Hannes Jaenicke, die Unternehmerin Paula Schwarz, die Bloggerin Henriette Egler, Bundesministerin a.D. Barbara Hendricks, der Arzt Gerhard Trabert, Ulrich Schneider (Paritätischer Wohlfahrtsverband), Jürgen Kisseberth (Lidl), Raphael Fellmer, Gründer der Plattform „Lebenmittelretten.de,“ Sternekoch Tim Raue, Hochschuldozentin Beatrice Moreno und Marianne Birthler, ehemalige Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der damaligen DDR. ©ih